Produkttest: Integralhelme

Eine alte Sonnenbrillenträger-Weisheit lautet: „It’s never too dark to be cool.“

Doch, ist es! Wer jemals auf einer übermütigen, womöglich sogar sonnigen Alpen-Motorradtour mit aufgesetzter Sonnenbrille und mächtig viel Karacho in einen unbeleuchteten, ziemlich überraschend als Kurve angelegten und mit nassem Belag versehenen Tunnel gestochen ist, weiß genau, dass es sehr wohl zu dunkel für eine Sonnenbrille sein kann.

Aber es muss erst gar nicht der fiese Alpentunnel sein. Sich ständig ändernde Lichtverhältnisse kann auch schon die erste Frühjahrsausfahrt mit Aprilwetter bringen. Da ist es dann schon recht praktisch, mit einem kurzen Griff der linken Hand für Verdunkelung oder Hellseherei zu sorgen – die in den Helm integrierte Sonnenblende macht’s möglich. Mittlerweile hat praktisch jeder Helmhersteller, von Ara einmal abgesehen, mindestens ein entsprechend bestücktes Modell im Programm.


Breite Masse kauft Motorradhelme mit Sonnenblende

Und der riesige Markterfolg gibt dieser Entwicklung recht. Nach Einschätzung von Marktexperten dürfte mittlerweile weit mehr als die Hälfte aller neu verkauften Integralhelme mit besagtem Sonnenschutz bestückt sein. Integralhelme ohne Sonnenblende lassen sich praktisch nur noch an Sportfahrer verkaufen, die für den Renneinsatz ein ge­töntes Visiermontieren. Oder aber im ab­soluten Niedrigpreissegment, in dem es auf jeden Euro ankommt. Die ganz breite Masse kauft Sonnenblende.

Grund genug, im MOTORRAD-Helmtest genau dieser Spezies auf den Kunststoff zu fühlen. Auf eine Preisklammer verzichtete MOTORRAD in der an 23 Anbieter verschickten Helmtest-Einladung ganz bewusst, um klären zu können, ob der Verkaufspreis tatsächlich direkt etwas mit der Qualität zu tun hat. Die Antwort kann vorweggenommen werden: jein. Auch ansonsten blieben die Testvorgaben recht großzügig: Es ­musste sich nur um ein aktuell erhältliches ­Se­rienmodell mit erfolgreich absolvierter Prüfung nach ECE-R 22.05 handeln, das als Zielgruppe sportliche Tourenfahrer mit dem Schwerpunkt  Naked Bike bedienen kann.

So kamen acht Modelle zusammen. Keine berauschende Zahl, aber doch eine recht ordentliche Bandbreite, die aufzeigt, was momentan für knapp 150 bis über 600 Euro zu bekommen ist. Neben altbekannten Modellen wie dem  Schuberth S2 und dem Held Brave gingen auch Neuheiten wie der HJC RPHA ST ins Rennen. In bewährter MOTORRAD-Helmtest-Manier galt es für die Kandidaten, im Praxis- und im Labortest fleißig Punkte zu sammeln. Beim Labortest auf dem Fallprüfstand des TÜV Rheinland in Köln zeigte sich deutlich, dass die Helmhersteller in den vergangenen Jahren sehr viel Know-how in die Verbesserung der Schlagdämpfung gesteckt haben.


Gute Ergebnisse beim 7,5-m/s-Versuch

Lagen bei der Premiere des verschärften MOTORRAD-Helmtests vor vier Jahren noch viele Modelle beim 7,5-m/s-Versuch auf der rechten Helmseite bei der Beschleunigung deutlich über 200 g (der ECE-Grenzwert liegt bei 275 g), so gab es diesmal – von ­einem kleinen Ausreißer abgesehen – nur Werte unter 200 g. Der für die Punktever­gabe relevante  HIC-Wert, für den ­MOTORRAD vor vier Jahren den damals noch etwas utopischen Wunsch­wert 1000 ansetzte, rückte diesmal in greifbare Nähe – HJC und Airoh fehlt nicht mehr viel zum Ideal.

Aber auch das übrige Testfeld lieferte ordentliche Werte, und auch beim (nicht in die Wertung einfließenden) Kinnschlag zeigten besonders Shark und Held mit überraschend niedrigen g-Werten, dass sich eine Menge getan hat. Unterm Strich machten alle getesteten Helme einen guten bis sehr guten Labor-Job, die Spreizung bei der Punktevergabe hielt sich mit maximal 20 und minimal 17 daher in recht engen Grenzen und beweist, dass Schlagdämpfung nichts mit dem Verkaufspreis zu tun haben muss.

Über Sieg oder Niederlage musste also der Praxistest entscheiden. Und dabei wurde schnell klar, dass der Preis durchaus eine Rolle spielt. Zum Beispiel bei der Ausstattung, denn ein serienmäßiges Pinlock-Visier, das als „Doppelscheibe“ das Beschlagen zuverlässig verhindert, lässt sich bei ­einem Helmpreis von unter 150 Euro nur schwerlich realisieren. Immerhin sind die Visiere der beiden Discount-Angebote von Caberg und Held mit einer Pinlock-Vorbereitung bestückt und lassen sich für jeweils rund 30 Euro recht einfach nachrüsten.

Unabhängig vom Preis haben sich mittlerweile ein paar Ausstattungsfeatures durchgesetzt, die vor 10, 15 Jahren nur höherpreisigen Helmen vorbehalten waren. So wird aufmerksamen Lesern nicht entgangen sein, dass der Ausstattungspunkt „herausnehmbares und waschbares Futter“ nicht mehr explizit erwähnt wird, denn das gehört mittlerweile ganz selbstverständlich dazu.


"fummelig zu bedienen" und "praktisch ohne Funktion"

Konnte man vor ein paar Jahren noch viele Zeilen über fingernagelmordende Visierwechsel-Dramen verlieren, so hat sich auch dieses Thema praktisch erledigt. Bei fast allen Helmen klappt das blitzschnell und kinderleicht. Die zarte Kritik am Rocc-Visierwechsel ist Klagen auf hohem Niveau und im Wesent­lichen der Tatsache geschuldet, dass es für den 550 Full Carbon keine modellspezi­fische Bedienungsanleitung gibt und man sich selbst in das Scheibenwechsel-Thema einfuchsen muss.

An anderer Stelle haben einige Helmhersteller in den letzten Jahren allerdings nichts oder nur sehr wenig dazugelernt. Welcher Teufel den Gestalter des Shark-Visiers­ geritten hat, als es um die Form des Visieröffners ging, bleibt ein Rätsel.

Fakt ist nur, dass das besagte Teil wegen Nicht­bedienbarkeit ein echtes Ärgernis ist und als glatte Fehlkonstruktion durchgeht. Ei­nige für Belüftungsschieber und -klappen verantwortliche Ingenieure müssten eigentlich auch vor Scham im Boden versinken, denn die tödliche Kombination „fummelig zu bedienen“ und „praktisch ohne Funktion“ ist gar nicht mal so selten anzutreffen.


HJC RPHA ST ist Testsieg­er

Wer die Endwertungstabelle etwas ge­nauer liest, wird sehr schnell sehen, wo die einzelnen Modelle ihre Stärken und Schwächen haben. Und daher ist es auch beim MOTORRAD-Helmtest wie im richtigen Leben: Wer keine echten Schwächen hat und immer schön Punkte sammelt, spielt am Ende ganz vorn mit. Das tut in diesem Jahr der HJC RPHA ST, der eine tolle HJC-Testsieg­serie fortsetzt und eindrucksvoll beweist, dass der weltgrößte Motorradhelm-Her­stel­ler nicht nur günstig, sondern auch richtig gut kann.

Die eigentliche Überraschung ­liefert aber Airoh, eine italienische Helmmarke, die die MOTORRAD-Tester bislang immer im soliden, aber nicht wirklich berauschenden Mittelfeld verortet hatten. Respekt, der Airoh Movement ist eine ganze Klasse besser.


Quelle: http://www.motorradonline.de